Lernzeiten

Die scheppernde Schulglocke in ihrem 45-Minuten-Takt ist der Inbegriff der Fremdbestimmung in der Schule. Einheitliches Lerntempo, den Anschluss verlieren, keine Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse – dafür steht dieser Gegenstand. Schon mehr als 30 Jahre ist er an vielen Grundschulen nicht mehr maßgebend.

Kinder und Uhren dürfen nicht nur aufgezogen werden, man muss sie auch mal gehen lassen.

Jean Paul

Mit diesem Zitat wurde ich während meines Lehramtsstudiums mehrfach konfrontiert, um das Bewusstsein auf eine mögliche andere Zeiteinteilung in der Grundschule zu lenken. Dieses „gehen lassen“ hat etwas Beliebiges, erinnert an Trödeln, was nicht so ganz zu schulischem Lernen passen will. Aber wahrscheinlich war es zu der Zeit für uns Studierende wichtig sich mit dieser Übertreibung auseinanderzusetzen, damit wir überhaupt Alternativen zu der 13 Jahre lang eingeübten Praxis: Schule = Verabreichung von Lernstoff in 45-Minuten-Happen“ in Erwägung ziehen konnten.

Damals als besonderes Steckenpferd einzelner Dozenten belächelt und bedient, dominiert das Thema Lernzeit, Zeitmanagement, Rhythmisierung inzwischen viele meiner Überlegungen zur Organisation des Unterrichts.

Individuelle Lernzeit mit Sanduhren festlegen
Sanduhren helfen, individuelle Lernzeiten festzulegen

Dabei beschäftigen mich vor allem folgende Themen:

  • Wie gehe ich mit den großen Unterschieden im Lerntempo um?
  • Wie komme ich zu einer passenden Einschätzung der benötigten Lernzeit innerhalb der Schülergruppe?
  • Vorausschauende Planung: Wie verteile ich die Lerninhalte auf das Schuljahr (Stichwort: Stoffverteilung)? Welche zeitlichen Fixpunkte sollte ich im Voraus setzen? Wo kann ich etwas laufen lassen?

Das unterschiedliche Lerntempo

Jedes Mal wenn ich eine neue Klasse übernehme (als es noch Halbtagsklassen waren), stresst mich das Thema: Wie viel Zeit für die Hausaufgaben ist angemessen? Elternauskünfte wie „Mein Kind war in fünf Minuten fertig“ sind genauso alarmierend wie „Nach zwei Stunden haben wir aufgegeben.“ Vor allem, weil sich solche Aussagen durchaus auf ein- und dieselbe Hausaufgabe beziehen können.

Man könnte meinen die Hausaufgaben stellen eine Randerscheinung im Unterrichtsgeschehen dar oder verlieren durch die Ganztagsschulen an Bedeutung, aber sie verdeutlichen eine Problematik, die sich bei der Erstellung von Wochenplänen zeigt oder jetzt bei der Organisation der Pläne für das Homeschooling. Im Grunde geht es immer darum, als Lehrerin eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie lange sind die Kinder damit beschäftigt? Leicht lassen sich die Fragen anschließen: Finde ich das passende Schwierigkeitsniveau für die einzelnen Kinder? oder Wie lange brauchen die einzelnen, um das Thema zu verstehen?

Ziemlich schnell wird klar, dass eine Differenzierung bzw. Individualisierung notwendig ist und dass die Lernzeiten der Schülerinnen und Schüler sehr unterschiedlich ausgefüllt sind. Dennoch stellt die Schule einen Rahmen dar, in dem Lernpensen verankert sind – oftmals in einem rhythmisierten Schultag -, der aber auch die Gewissheit gibt: Für heute ist es genug! Freizeit, Erholung, Chillen sind angesagt! Insofern kommt man als Lehrkraft nicht aus der Nummer raus, Mitverantwortung für die Einteilung der Lernzeit zu übernehmen. Wie kann das gehen, ohne zu häufig frustriert zu werden oder Über-/Unterforderung zu erzeugen?

  • Wochenpläne mit verbindlichen Aufgaben und freiwilligen Aufgaben. Damit ist das Mindestpensum für die Woche vorgegeben. Unabdingbar ist dabei, dass die Sicherheit besteht: Wenn ich das Mindestpensum bewältigt habe, habe ich genug getan, um mir das Thema zu erschließen. Freiwilligkeit funktioniert in diesem Zusammenhang nur dann, wenn es bedeutet, dass ich selbst entscheiden kann, mit welchen Aufgaben ich mich nach dem Pflichtpensum beschäftige. Die Option Freiwilligkeit im Sinne von „ich kann es auch ganz bleiben lassen“ habe ich bisher noch nie als produktiv für die Lernzeit in der Schule erlebt. Diese Vorgehensweise ist auf alle anderen Formen von Themenheften, Pensenbüchern, Lernstationen, … übertragbar.

  • Leerlauf aushalten und Lernzeit als produktiv erlebbar machen. In Ganztagsschulen umfasst ein Schultag acht Zeitstunden. Dass in dieser langen Zeitspanne nicht nur Entspannung in den Mittags- und Bewegungspausen sowie Spielphasen notwendig ist, versteht sich von selbst. Als Lehrerin kann ich durch Rhythmisierung den Rahmen setzen, wann es Phasen der Konzentration und wann es Phasen einer mit einem breiten individuellen Spielraum für den Grad der Fokussierung gibt. Egal wie groß die Lerngruppe ist, jedes Kind wird innerhalb dieses Rahmens noch weitergehende Entscheidungen über seinen Lernrhythmus treffen. Dies schließt auch gewaltige Unterschiede bei der aufgewendeten Zeit mit Lerninhalten ein. Die Angemessenheit dieser persönlichen Zeiteinteilung bleibt nach meiner Erfahrung ein fortlaufender Aushandlungsprozess. Auf der einen Seite gilt es denjenigen Anreize zu setzen, die schon am Mittwoch mit ihren Pflichten fertig sind, um dann zwei Tage „Freizeit“ zu haben. Beispielsweise durch anregende „freiwillige“ Aufgaben (s.o.) oder das Auffinden eigener Vorhaben, die eine ausdauernde Auseinandersetzung anregen. Auf der anderen Seite geht es um Anreize für diejenigen, die nur selten fünf Minuten am Stück arbeiten können. Dies kann die Festlegung der konzentrierten Lernzeit durch eine Sanduhr sein mit der Zusage einer anschließenden Pause. Aber auch die gemeinsame Überlegung, wann ich das platziere, was mir schwerfällt und was mir hilft, auch das durchzuziehen – also das Einüben einer planvollen Zeiteinteilung. Wichtig ist bei all diesen Überlegungen, dass alle merken, dass auch die Gemütlichkeit ihren Wert hat – fürs Gemüt, für das Miteinander, für die Persönlichkeitsentwicklung. Dies in gemeinsamen Runden oder auch im Vieraugengespräch zu spiegeln gehört genauso zur Lernbegleitung.

  • Vorgaben ändern – wenn es sein muss. Trotz des Aushandelns, Beobachtens, Rückmeldens kommt es vor, dass Zeitvorgabe und Lernangebot für manche Kinder nicht vereinbar sind. Dann kann es sinnvoll sein, Dinge wegzulassen oder Extraaufgaben einzufordern. Die Fehleinschätzung zu benennen ist eine hilfreiche Begründung. Es darf nur nicht oft vorkommen, weil sonst die gestaltete Lernumgebung schnell das Etikett der Beliebigkeit verpasst bekommen kann.

Wie komme ich zu einer realistischen Einschätzung der individuellen Lernzeit?

Die Erfahrung zeigt, dass es im Laufe des Schuljahres zunehmende Passung zwischen der vorgegebenen Lernzeit und der benötigten Lernzeit gibt. Jetzt im Homeschooling erfolgte diese Annäherung beschleunigt. Ich erinnere mich noch an die ersten Wochen, bevor sich die digitalen Gesprächsformen eingespielt hatten. Mir war völlig unklar, wie viel Stunden die Kinder zuhause täglich mit den Aufgaben zubrachten, die sie mir dann zukommen ließen. Selbstauskünfte während des Videounterrichts und aufgabenbezogene Elternmitteilungen über die Lernplattform führten zu Veränderung des Stoffumfanges und der Anteile von Pflicht- und freiwilligen Aufgaben. War es zuerst zu umfangreich (für die Mehrheit) wurde es anschließend zu wenig (für die Mehrheit). Bis es sich mehr oder weniger eingependelt hat. Ausreißer in die eine oder andere Richtung gab es immer noch – sie wurden aber seltener.

Was sich in diesen drei Monaten während des Homeschoolings in Zeitraffer zeigte, muss ich in jedem Schuljahr und mit jeder Klasse immer wieder von neuem erleben. Meine diesbezüglichen Lernfortschritte nehmen sich sehr bescheiden aus. Immerhin habe ich es als Entwicklungsfeld erkannt und werde jede Lerngelegenheit nutzen, um Fortschritte zu erzielen.

Es gibt noch eine weitere Unsicherheit, die mir in diesem Zusammenhang erhalten geblieben ist. Immer wieder frage ich mich, wer sich in dem beschriebenen Annäherungsprozess mehr bewegt. Lasse ich mich zu sehr auf die moderate Lerngeschwindigkeit ein? Und vermittle damit den Eindruck zu wenig fordernd zu sein? Oder genau umgekehrt: Bleiben meine Erwartungen zu starr und verstärken damit Lernhemmungen und Versagensängste? Was ich für mich in Anspruch nehmen kann, eine Reflexionsgrundlage ist da. Forschendes (Dazu)lernen auf diesem Feld bleibt möglich! Und vielleicht schützen solche Unsicherheiten vor zu viel Routine und halten die Freude am Beruf lebendig!

Die Stoffverteilung!?!

Der Begriff Stoffverteilungspläne erinnert an das vergangene Jahrhundert. Die Lehrerin verteilt den Stoff aus dem Lehrplan auf die Schulwochen im anstehenden Schuljahr – am besten: Anzahl der Schulbuchseiten dividiert durch die Schulwochen des Schuljahres – und dieser Plan wird von der Klasse im Gleichschritt abgearbeitet. Die Rollenverteilung zwischen Verantwortlichen und Ausführenden ist festgelegt.

Die Bildungspläne sind inzwischen so aufgebaut, dass es um die Erreichung von Kompetenzen geht. Lerninhalte werden nicht für einzelne Schuljahre sondern für Stufen (zwei oder drei Jahre) vorgegeben. Nur zwei Drittel des Schuljahres sind für das Kerncurriculum vorgesehen, ein Drittel bleibt dem Schulcurriculum vorbehalten. Daraus entstehen planerische Flexibilität und Freiräume für die Zeiteinteilung. Dennoch bleibt der Grundanspruch der Bildungspläne bestehen. Sie setzen Standards, welche Kompetenzen auf Schülerseite nach einem bestimmten Zeitraum erlangt sein sollen. Für die Gestaltung der Lernumgebung heißt das, einen umfassenden Kompetenzerwerb möglichst allen Schülerinnen und Schülern ermöglichen, also auch über Zeiteinteilung sprechen.

Für mich als Lehrerin sehe ich zwei Möglichkeiten, mit dem Zeitmanagement umzugehen:

  1. Ich habe die inhaltlichen Schwerpunkte für einen bestimmten Zeitraum im Kopf und lege wenige Meilensteine fest, bis wann was bearbeitet sein sollte und lege dann los. Lasse mich aber zwischen den Meilensteinen vom Schülertempo leiten. Dies ermöglicht oftmals einige entspannte Arbeitswochen mit einer elaborierten Vorgehensweise zu Beginn, die dann aber in eine oberflächlich Hektik umschwenken, sobald der nächste Meilenstein in Sicht kommt.
  2. Ich erstelle eine relativ feine Planung, die ich als Folie für einen idealen Verlauf betrachte. Davon ausgehend kann ich wochenweise nachjustieren, wenn Abweichungen auftreten. Der zeitliche Takt ist relativ gleichmäßig. Die Unterschiede zwischen Gelassenheit und Hektik sind nicht so krass. Eine Grundanspannung liegt dieser Vorgehensweise möglicherweise eher zugrunde.

Unabhängig davon geht es auch darum, die Schülerinnen und Schüler in die Planung einzubeziehen. Auch dies kann mit weniger oder mehr Offenheit geschehen:

  • Ich gebe die Kompetenzen vor, deren Erwerb am Ende einer Unterrichtseinheit stehen sollte. Dazu mache ich Vorschläge, anhand welcher Aufgaben der Kompetenzerwerb erfolgen kann. Als zusätzliche Entscheidungshilfen können den Aufgaben auch noch verschiedene Schwierigkeitsstufen zugeordnet werden und ein Abschlusstermin für die Unterrichtseinheit. Auf dieser Grundlage verfolgen die Kinder ihre eigene Lernspur, um die Kompetenzen zu erreichen.
  • Die Lernumgebung ist so gestaltet, dass die enthaltenen Lernangebote die Erreichung aller (in der Grundschulzeit/in der Schulstufe) erwarteten Kompetenzen gewährleisten können. Die Dauer der Auseinandersetzung sowie die Reihenfolge liegt zunächst in der Hand der Schülerinnen und Schüler. Die Dokumentation der eigenen Lernwege kann strukturiert oder offen erfolgen. Regelmäßige gemeinsame Reflexionen über die Arbeitsweise und den Lernzuwachs mit der Lehrkraft begleiten diese Vorgehensweise.

Die Beratung der Schülerinnen und Schüler erfordert neben inhaltlichen Aspekten immer wieder auch das Zeitmanagement. Mindestens zwei Dinge unterstützen eine förderliche Lernbegleitung:

  1. Eine gute Übersicht auf Lehrerseite: Was sind die Kernpunkte für die Schülergruppe im laufenden Schuljahr?
  2. Die Aneignung von Kenntnissen darüber: Welcher Lernrhythmus/welche Arbeitsweise ist für das einzelne Kind besonders produktiv?

Um Erkenntnisse zum zweiten Punkt zu erhalten, sind Lernphasen ganz ohne zeitliche und inhaltliche Vorgaben sehr hilfreich. Vieles ausprobieren oder ein Vorhaben gezielt umsetzen? Interaktiv oder für sich arbeitend? Von Wissbegierde geleitet oder eher moderate Beschäftigung ohne Gefahr der Überforderung?

Auch nach Abschaffung der Schulglocke spielt das Thema Zeit in der Grundschule eine wichtige Rolle. Auf Lehrerseite heißt dies, möglichst viele Aspekte bei der Gestaltung von Lernumgebungen mitzubedenken und der Verantwortung für das Zeitmanagement nicht auszuweichen. Auf Schülerseite heißt das: Zu meinen Lernaufgaben gehört es auch, dass ich über die Zeiteinteilung nachdenke und zunehmend selbst Verantwortung dafür übernehmen kann.

Die langatmigen Ausführungen und das Ringen um einen strukturierten Text machen bestimmt deutlich, wie sehr ich mit diesem Thema ringe. Deswegen noch einmal knapp zusammengefasst, worum es mir geht:

  • Lernzeit ist begrenzt.
  • Möglichkeiten zu schaffen, sie mit ermutigenden, motivierenden Lernerfahrungen zu füllen, gehört zu den Verantwortlichkeiten jedes Lehrers und jeder Lehrerin.
  • Planvolles Umgehen mit Zeit kann auf vielerlei Weise erfolgen. Es gibt nicht den Königsweg.
  • Der kontinuierliche Austausch im Lehrerteam über gelungene Erfahrungen mit dem Zeitmanagement eröffnet der ganzen Schule Wege, sich auf diesem Feld zu verbessern.
  • Wichtig ist es, verschiedene Möglichkeiten zu kennen, wie Lernzeit strukturiert werden kann. Eigene Erfahrungen zu machen und diese zu reflektieren sind eine wesentliche Grundlage für professionelles Lehrerhandeln.
  • Zeiteinteilung ist auch ein Lern- und Entwicklungsfeld für Schülerinnen und Schüler. Fortschritte ermöglichen und begleiten gehört zu den Aufgaben von Lehrkräften.

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